Berlinale Tag 7 - Blümchen-BDSM in Fifty Shades of Grey

12.02.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Im Uhrzeigersinn: Gone with the Bullets, Fifty Shades of Grey, Aferim, Eisenstein in Eisenstein in GuanajuatoUniversal, Emperor, Submarine,  HI Film
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Sergei Eistenstein erlebt sein sexuelles Erwachen und Anastasia Steele tut es ihm in Fifty Shades of Grey gleich. Jammerschade, dass Peter Greenaway nur einen der beiden Filme inszeniert hat.

Die Extreme der Berlinale 2015 in einem Satz: Am Morgen mit Sergei M. Eisenstein durch Mexiko stromern und am Abend ein Praktikum bei Christian Grey absolvieren. Wider Erwarten bildete Fifty Shades of Grey nicht den künstlerischen Klimax dieses siebten Berlinale-Tages. Frauen und Männern jeden Alters dabei zuzusehen, wie sie beim Einlass alle Fassung abstreifen und die Treppen hochstürmen, hat allerdings auch seinen Reiz.

Zehn Tage, die Eisenstein erschütterten
Wenn Sergei Eisenstein - Regisseur von Panzerkreuzer Potemkin, Revolutionär der kinematografischen Sprache - in Peter Greenaways Eisenstein in Guanajuato mit seinem Schwanz redet, müssten die versammelten Biopic-Langweiler der diesjährigen Oscar-Saison vor Scham im Boden des Dolby Theatres versinken. Greenaway hat zwar nicht Soviet Pie gedreht, dafür ein rasendes Porträt einer kolossalen Entdeckerlust, deren wichtigste Offenbarung in Mexiko wartet. Es ist nicht das unvollendete Projekt Que Viva Mexiko - Es lebe Mexiko, welches der sowjetische Regisseur Ende 1930 per Finanzierung von linken US-Intellektuellen realisieren wollte. Rund 400 Kilometer Film wird Eisenstein nach seinem Aufenthalt in Mexiko verdreht haben, bevor der Produktion das Geld ausging. Greenaway beschränkt sich auf zehn Tage in Guanajuato, in denen wir Eisenstein so gut wie nie auch nur in der Nähe einer Kamera sehen. Stattdessen serviert Greenaway seinem fiktiven Eisenstein (Elmer Bäck) die Erfüllung seiner sexuellen Sehnsüchte auf einem Goldtablett. Ob Eisenstein in Mexiko wirklich eine Affäre mit seinem lokalen Reiseführer hatte, der ihm ein Coming Out im Kleinen ermöglichte, spielt hier keine Rolle.

Wenn wir uns die überlieferten Fotos der Filmlegende mit den charakteristischen elektrisierten Haaren, dem tiefliegenden, leicht unheimlichen Blick ansehen, dann fällt es schwer, nicht über diesen Mann zu fantasieren. Greenaway schreibt sich in dieser Hinsicht den Freifahrtschein gleich selbst aus und zeigt einen manischen Clown und Charismatiker, der die beste Zeit seines Lebens durchmacht. Während der sowjetische Regisseur seine Filme dank der Erfahrungen in Mexiko als "sich bewegende Freskos" bezeichnete, gleicht Eisenstein in Guanajuato hin und wieder einem Mosaik, in dem kulturelle Eigenheiten, biografische Hintergründe die Geschichte in Split-Screens und Kommentaren ergänzen. Faktenschleuder hin oder her: Nach dem Trip durch Guanajuato möchte man mit Eisenstein und dem Schwung von Prokofjews Tanz der Ritter  um die Häuser ziehen. Selbst wenn dieser Eisenstein nie existierte.

Gewalt ist die universelle Sprache
Greenaways Eisenstein-Fantasie transformiert in einer auf Beifall schielenden und diesen verdienenden Sequenz den Raum selbst in einen Filmstreifen. Jiang Wen wählt für seinen "Film über das Kino", Gone with the Bullets, einen Ansatz, der mehr mit jenem in The Forbidden Room gemein hat. Eine reale Mordgeschichte aus Shanghai dient als Grundlage des Berlinale-Beitrags, doch nicht irgendeine: Der erste chinesische Film überhaupt soll auf dieser Story basieren und Jiang entwickelt seine eigene Version von dessen Entstehung. Im Shanghai der 20er wird der von ihm selbst gespielte Nachtclub-Besitzer Ma Zouri des Mordes verdächtigt, flieht und muss schließlich die Hauptrolle im Film über diesen Fall spielen, inklusive Hinrichtung. Im ersten Drittel gibt sich Gone with the Bullets ruheloser und redseliger als die anderen Regie-Arbeiten Jiangs, was manchmal schlicht und ergreifend nervt. Die anfängliche Ekstase gipfelt in einem sensationellen filmischen Opiumrausch, in dem der Mond fast mit dem Fingern berührt werden kann, so tief saust er über ein Feld vor Shanghai. Es ist ein klassischer Filmtraum der Marke Jiang Wen, nur mit mehr Geld und CGI umgesetzt.

Mehr: So viel Wahnsinn muss sein - Jiang Wen bei der Berlinale

Der Tanz auf dem Vulkan endet im Mittelteil jäh und die satirischen Untertöne über Neureiche weichen einer regelrecht erschütternden Selbstbildnis des Regisseurs in der Mangel von Zensur und Kommerz. Im Grunde vermengt Jiang die Blockbusterqualitäten der Satire Let the Bullets Fly - Tödliche Kugeln mit dem symbolischen Erzählrausch des Episodenfilms The Sun Also Rises. Nur findet er nicht durchgängig zu ähnlich einprägsamen oder witzigen Szenen. Als imposantes Selbstporträt eines Regisseurs auf dem Höhepunkt seines Erfolges bleibt Gone with the Bullets mitsamt seiner paradoxen Unterhaltungssucht ein einzigartiges Dokument des chinesischen Blockbuster-Kinos.

Guten Schnaps kostet man nicht, man kippt ihn
Reduzierter geht es im Wettbewerbsfilm Aferim! und der Panorama-Premiere Ned Rifle zu. Ersterer, ein rumänisches Road Movie (oder Path Movie?), begleitet in der Walachei des Jahres 1835 einen Oberst und seinen Sohn auf der Suche nach einem entflohenen „Zigeunersklaven“. Auf Staatsmänner und Feldherren verzichtend, entwirft Radu Jude (Everybody in our Family) in außerordentlichen schönen Schwarz-Weiß-Bildern die wenig schmeichelnde, aber plastische Momentaufnahme einer Region, in der an jeder Ecke ein deftiges Sprichwort oder eine bösartige Litanei gegen alles Fremde lauert.

Hal Hartley beendet mit Ned Rifle eine Trilogie, die 1997 mit Henry Fool begann und 2006 mit Fay Grim fortgesetzt wurde. Hartley, ein Berlinale-Veteran, greift trotz des großen zeitlichen Abstands weitgehend auf das bekannte Ensemble um Thomas Jay Ryan, Parker Posey, James Urbaniak und Liam Aiken zurück. Dazu gesellt sich unter anderem Parks and Recreation-Star Aubrey Plaza. Aiken spielt die Titelheld Ned, der die letzten Jahre bei christlichen Pflegeeltern aufwuchs und nun gedenkt, seinen leiblichen Vater zu ermorden, Henry Fool (Ryan). Minimalistisch inszeniert Hartley das humorig nachgerade staubtrockene Familienstück, das sich etwas zu oft über die akademischen Fremdwortkenntnisse seiner Helden amüsiert. Die filmische Miniatur macht im Übrigen auch Spaß, wenn man die beiden Vorgänger des hierzulande weniger bekannten Indie-Gotts nicht kennt.

Anal Fisting wird gestrichen
Fifty Shades of Grey schloss meinen fünf Filme umfassenden siebten Berlinale-Tag ab und was soll ich sagen? Wenn man erstmal gesehen hat, wie eine Frau die Fäkalien einer anderen schluckt (Der letzte Sommer der Reichen) oder ein Bakterienpenis Jena Malone penetriert, dann gibt ein jugendfreundlicher Wikipedia-Eintrag mit Fan-Fiction-Elementen wie Sam Taylor-Johnsons Bestseller-Adaption wenig Anlass zu Überraschungen. Fifty Shades of Grey wurde geschmackvoll und durchsichtig inszeniert , dass jeder sleazige Gedanke am Kinosaal abgegeben werden muss. Die beiden Schauspieler Jamie Dornan und Dakota Johnson entwickeln die nötigen Ansätze von Chemie und spielen bei den etwas dämlichen, aber notwendigen Gags in der ersten Hälfte gut gelaunt mit. Faszinierender waren bei der Fifty Shades of Grey-Premiere im Berliner Zoo Palast die Reaktionen des Publikums. Szenenapplaus und Gelächter gab es für die Erwähnung von Butt Plugs und Anal Fisting. Jamie Dornans "I don't make love, I fuck" erntete ein paar schüchterne Jubelschreie. Eine Die Reifeprüfung-Referenz wurde nur bei dem zurückhaltenden Block von Kritikern mit dem gewünschten Gelächter quittiert. Bei den Sexszenen wurde es im ganzen Saal ruhig. Es bleibt die Frage: Was macht eigentlich Adrian Lyne?

Berlinale Weisheit des Tages: "Alle Wege führen zur Toilette." (Gone With the Bullets)

Alle Berlinale-Tagebücher auf einen Blick:

Tag 10 mit Kon Ichikawa und dem verschobenen Frühling
Tag 9 mit dem Kleid aus Cinderella
Tag 8 mit Elser und An American Romance
Tag 7 mit Fifty Shades of Grey und Eisenstein in Guanajuato
Tag 6 mit Nasty Baby und Every Thing Will Be Fine
Tag 5 mit Als wir träumten und Redskin
Tag 4 mit Knight of Cups und Der Perlmuttknopf
Tag 3 mit Victoria und Der letzte Sommer der Reichen
Tag 2 mit Queen of the Desert und The Forbidden Room
Tag 1 mit Nobody Wants the Night und Hedi Schneider
Berlinale-Prolog

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